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Untersuchungs- und Ausschaffungshaft von Jugendlichen unter 15 Jahren in dr Schweiz. Ein kritischer Blick auf Praxis und Rechtsprechung von PROF. Dr.Dr.h.c. Nicolas Queloz, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg (Suisse)
  
[ Bulletin DEI, septembre 2014 Vol 20 No 3 p.III-IV ]



ZUSAMMENFASSUNG: Der Freiheitsentzug von Minderjährigen ist ein umstrit- tenes Thema, insbesondere weil dieser der erzieherischen Auffassung des Jugendstrafrechts zuwiderläuft. Die Inhaftierung von Kindern stellt ein noch akuteres Problem dar. In der Schweiz werden die Untersuchungs- und aus- länderrechtliche Ausschaffungshaft von Kindern unter 15 Jahren – trotz deren Verbot – von den Behörden leider ausgesprochen. Der folgende Beitrag beschreibt diese Situationen sowie deren rechtlichen Rahmen und nimmt diese Praxis
kritisch unter die Luppe.

1. EINLEITUNG
In der Schweiz hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahren weiterentwickelt, sodass es heute keineswegs mehr ein „minderwertiges“ Recht oder ein Recht von „minderem“ Interesse darstellt.

In einem ersten Schritt ist am 1. Januar 2007 das JStG2 in Kraft getreten, das hauptsächlich die strafrechtlichen Sanktionen (erzieherische und therapeutische Massnahmen und Strafen) vorsieht, die gegenüber Minderjährigen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben, ausgesprochen werden können. Der schweizerische Gesetzgeber geht somit (in der Form einer widerlegbaren Vermutung) von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Kindes ab dem vollendeten 10. Altersjahr aus. Dies stellt in Europa die niedrigste Schwelle für das Eingreifen des Strafrechts dar.
Anschliessend trat am 1. Januar 2011 die JStPO3 in Kraft, welche die erste (schweizweit) vereinheitlichte Jugendstrafprozessordnung darstellt. Dieses Gesetz hat das Jugendstrafrecht modernisiert und ihm eine weniger paternalistische, aber eine vermehrt legalistische Prägung verliehen. Die JStPO ist somit ein formelles Spezialgesetz, das die Verfolgung und Verurteilung von straffälligen Minderjährigen regelt und für Situationen, die von der JStPO nicht erfasst werden (Art. 3 JStPO), auf die Strafprozessordnung für Erwachsene (StPO 4) verweist, unter Ausnahme der Fälle, in denen die Anwendung bestimmter Teile der StPO ausdrücklich ausgeschlossen wird.

2. DER STRAFRECHTLICHE FREIHEITSENTZUG BEI MINDERJÄHRIGEN

Die Frage des strafrechtlichen Freiheitsentzugs bei Minderjährigen wird in der JStPO (Untersuchungshaft) nicht so klar geregelt wie im JStG (für die Freiheitsstrafe).

Art. 25 Abs. 1 JStG verbietet ausdrücklich, dass ein Jugendlicher vor der Vollendung des 15. Altersjahres zu einer Freiheitsstrafe (ab einem Tag) verurteilt wird. Die JStPO hingegen enthält in Art. 27 Abs. 1 kein Mindestalter für die Untersuchungshaft, unterstreicht jedoch deren subsidiären Charakter, indem dieser Artikel vorsieht, dass solche Zwangsmassnahmen „nur in Ausnahmefällen und erst nach Prüfung sämtlicher Möglichkeiten von Ersatzmassnahmen angeordnet“ werden (Abs. 1). Dabei ist daran zu erinnern, dass die „Untersuchungshaft eine sehr schwerwiegende Zwangsmassnahme darstellt (...) Sie birgt für die be- schuldigte Person, die einer freiheitsentziehenden Massnahme mit oft verhängnisvollen, wenn nicht sogar verheerenden Folgen unterzogen wird, zahlreiche Nachteile“5, insbesondere wenn ein Kind inhaftiert wird. Ausserdem ermöglicht es Art. 27 Abs. 2 JstPO der Jugendjustiz, den Beschuldigten viel länger (bis zu
sieben Tagen) in Untersuchungshaft zu belassen, als dies für Staatsanwälte in Verfahren betreffend Erwachsene (höchstens 48 Stunden: Art. 224 Abs. 2 StPO) möglich ist, bevor das Zwangsmassnahmengericht angerufen
werden muss. Im Übrigen verweisen Art. 3 und 27 JStPO auf die Regeln der StPO. Einer dieser Bestimmungen kommt dabei eine besonders wichtige Tragweite zu, und zwar Art. 212 StPO (Grundsätze), dessen Abs. 3 klar vorsieht, dass „Untersuchungs- und Sicherheitshaft [...] nicht länger [...] als die zu erwartende Freiheitsstrafe [dauern dürfen]“, d.h. als die Strafe, zu der der Beschuldigte verurteilt werden könnte. Aus dem Verbot der Verurteilung eines Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe vor Vollendung des 15. Altersjahres (Art. 25 JStPO) ist zu schliessen, dass die Untersuchungshaft ebenfalls untersagt und illegal ist, wenn sie gegenüber Kindern unter 15 Jahren ausgesprochen wird, selbst wenn Art. 27 Abs. 1 JStPO keine explizite Altersgrenze festsetzt.
Leider gehen diesbezüglich die Meinungen der Jugendrichter auseinander. Die Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege der lateinischen Schweiz hat sich sogar offiziell gegen die oben aufgeführte Auslegung geäussert, namentlich weil die gesetzliche Grundlage nicht klar sei und diese Lücke im Gesetz (das Fehlen einer Altersgrenze in Art. 27 JStPO) in dem Sinne auszulegen sei, dass der Gesetzgeber die Untersuchungshaft von Minderjährigen unter 15 Jahren nicht ausgeschlossen habe und dass eine solche Zwangsmassnahme, die den Bedürfnissen der Strafuntersuchung dient, andere Ziele als die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe verfolge.
Das klassische, von bestimmten Jugendrichtern vorgebrachte Beispiel der abschreckenden Wirkung, die die Untersuchungshaft ausüben soll, zielt regelmässig auf „das Problem der Fahrenden“ – insbesondere der jungen Roma – ab, die nach der Begehung von Diebstählen verhaftet worden sind.

Diese unseres Erachtens sehr fragwürdige Position ist unter anderem mehr- mals von der Justiz des Kantons Genf vertreten worden. Im November 2012 und im Dezember 2013 hat das Genfer Zwangsmassnahmengericht – obwohl dieses in der Strafverfolgung die persönliche Freiheit schützt – entschieden, die Untersuchungshaft eines 14-jährigen Kindes beziehungsweise eines 12-Jährigen um einen Monat zu verlängern. Beide waren bereits seit 5 Tagen in Haft. Das Gericht befand, dieser Entscheid sei verhältnismässig „angesichts der Strafandrohung sowie der Strafe“, denen sich diese Minderjährigen „konkret ausgesetzt“ hätten. Diese Begründungen sind jedoch absolut widerrechtlich, da ei- nerseits die im Strafgesetzbuch vorgesehenen Strafandrohungen nur für Erwachsene gelten und anderseits Kinder unter 15 Jahren einen Verweis, eine Arbeitsleistung oder die Pflicht zur Teilnahme an Kursen riskieren, unter Ausschluss jeglicher Freiheitsstrafe. Zu bedauern ist ferner, dass der Genfer Kantonsgerichtshof die Beschwerden der Verteidiger dieser Kinder mit der äusserst knappen Begründung abgewiesen hat, Art. 212 Abs. 3 StPO sei eine Bestimmung, die „lediglich im Rahmen des die Erwachsenen betreffenden Strafprozesses, d.h. ohne Berücksichtigung des Jugendstrafrechts geschaffen und konzipiert wurde“6. Obwohl die StPO tatsächlich nur für Erwachsene verfasst wurde und die Gesetzesmaterialien keinen Hinweis zur Auslegung der JStPO en- thalten, ist bezüglich der JStPO festzustellen, dass a) sie den Verweis auf die StPO nur vorsieht, sofern „dieses Gesetz keine besondere Regelung [enthält]“ (Art. 3 Abs. 1 JStPO), b) Art. 212 StPO nicht unter den Bestimmungen aufgeführt wird, deren Anwendbarkeit ausdrücklich ausgeschlossen wird (Art. 3 Abs. 2 JStPO), und schliesslich c) dass, falls die StPO zur Anwendung kommt, „deren Bestimmungen im Licht der Grundsätze von Artikel 4 dieses Gesetzes auszulegen [sind]“ (Art. 3 Abs. 3 JStPO), der Folgendes vorsieht: „Für die Anwendung dieses Gesetzes sind der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen wegleitend. Alter und Entwicklungsstand sind angemessen zu berücksichtigen“ (Art. 4 Abs. 1 JStPO). Aus solchen Auslegungsgrundsätzen des Jugendstrafprozessrechts ist a fortiori zu schliessen, dass Art. 212 Abs. 3 StPO mit den fundamentalen Grundsätzen der JStPO vollkommen im Einklang steht.

Dies nicht einzusehen und die Untersuchungshaft von Kindern unter 15 Jahren zuzulassen, stellt eine auf die Repression – und nicht auf den Schutz – ausgerichtete Strafverfolgungspolitik dar, die sich lediglich auf die Abschreckung konzentriert, und dies auf diskriminierende Weise, da sie hauptsächlich „Fahrende“ betrifft. Eine solche Praxis läuft nicht nur der JStPO und der StPO zuwider, sondern auch den fundamentalen Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsgrundsätzen, die durch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Art. 2) und die Schweizerische Bundesverfassung (Art. 8) gewährleistet werden.

Dabei ist zu bemerken, dass die schweizerischen Jugendjustizbehörden zur sensiblen Frage der Untersuchungshaft von Kindern unter 15 Jahren gespalten sind, insbesondere was die Justizbehörden der französischen Schweiz (die die Genfer Entscheide sehr gut veranschaulichen) und der Deutschschweiz betrifft. So hat die Beschwerdeinstanz des Aargauer Kantonsgerichts in einem Urteil vom 18. Juni 2013 entschieden, dass Art. 212 Abs. 3 StPO auf das Jugendstrafprozessrecht anwendbar ist 7. Das Gericht befand jedoch, dass im fraglichen Fall eine „Überhaft“ und somit eine illegale Untersuchungshaft eines 12- jährigen Kindes vorliege, da dieses seit mehr als 10 Tagen unter Freiheitsentzug stand, was die vorgesehene Höchstdauer (10 Tage) einer persönlichen Leistung überschreitet, wenn diese gegenüber einem Jugendlichen angeordnet wird, der zur Zeit der Tat das 15. Altersjahr noch nicht vollendet hat (Art. 23 Abs. 3 JStG). Wir sind mit diesem letzten Argument jedoch nicht einverstanden, da die per- sönliche Leistung (deren Pendant bei Erwachsenen die gemeinnützige Arbeit ist) eine freiheitsbeschränkende und nicht-entziehende Strafe darstellt, die im offenen Vollzug und während der Freizeit des Verurteilten verrichtet wird.

Anfang 2014 wurde vor Bundesgericht eine Beschwerde auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untersuchungshaft eines 12-jährigen Kindes (im oben erwähnten Genfer Fall) erhoben, sodass man mit Freude erwarten durfte, dass diese wichtige und umstrittene Frage betreffend die Rechte und die Freiheit des Kindes mit einer einheitlichen Auslegung beantwortet würde. Doch die erste öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts erachtete diese Beschwerde leider als unzulässig, indem sie ein aktuelles rechtlich geschütztes Interesse verneinte (sic!),sowie aufgrund des subsidiären Charakters des Feststellungsbegehrens 8. Gemäss dem Höchsten Gericht hätte eine materielle Überprüfung der Widerrechtlichkeitsrüge der Untersuchungshaft
stattfinden können, wenn in der Beschwerde eine offensichtliche Verletzung eines verfassungsmässigen Grundrechts des Kindes geltend gemacht worden wäre. Dies scheint uns jedoch klar der Fall zu sein, da die indi- viduelle Freiheit – ein besonders hochwertiges Rechtsgut, für das die öffentlichrechtliche Abteilung die letzte Garantin sein sollte – hier auf dem Spiel stand. Wir bedauern eine derart formalistische und minimalistische Position des Höchsten Gerichts sehr und betrachten sie als eine wahre Rechtsverweigerung.

3. HAFT VON MINDERJÄHRIGEN IM AUSLÄNDERRECHT
Leider existiert in der Schweiz die Praxis der Inhaftierung von Kindern vor Vollendung des 15. Altersjahrs auch im Bereich der Zwangsmassnahmen des Ausländerrechts.
Dabei ist eine solche Praxis gemäss Gesetz klar
untersagt. Art. 79 AuG9 sieht nämlich vor, dass die
verschiedenen Hafttypen des Ausländerrechts „die maximale Haftdauer von sechs Monaten nicht
überschreiten [dürfen]“ (Abs. 1), dass aber „die maximale Haftdauer [...] mit Zustimmung der kantonalen richterlichen Behörde um eine bestimmte Dauer, jedoch höchstens um zwölf Monate, für Minderjährige zwischen 15 und 18 Jahren um höchstens sechs Monate verlängert werden [kann]“ (Abs. 2). Keine andere Bestimmung des AuG setzt eine Altersgrenze und insbesondere keine Mindestaltersgrenze fest.
Somit ist es absolut illegal, die Administrativhaft von Kindern unter 15 Jahren auszusprechen, und die Praxis der Inhaftierung von gesamten Familien in „Familienzellen“, bei der die Kinder in den ihre(n) Eltern(teil) betreffenden Entscheid miteinbezogen
werden, stellt unseres Erachtens ebenfalls eine Verletzung des nationalen Rechts und der internationalen Abkommen dar, die für die Schweiz verbindlich sind.

4. SCHLUSSFOLGERUNG
Die beiden beschriebenen Beispiele illegaler Entscheide und Praktiken betreffend die Haft von Minderjährigen unter 15 Jahren in der Schweiz sind zu kritisieren. Sie laufen dem Schutz der Rechte des Kindes und den Verpflichtungen der Schweiz in diesem Bereich klar
zuwider. Die schweizerischen Behörden – seien es die Verwaltungs- oder die richterlichen Behörden – müssen dieser Tendenz unbedingt entgegenwirken.

1. Avec mes sincères remerciements à Mme Odile Ammann (Université de Fribourg) pour l’adaptation du texte en langue allemande.
2. JStG: Jugendstrafgesetz, Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht (vom 20.06.2003, SR 311.1).
3. JStPO: Jugendstrafprozessordnung, Schweizerische Jugendstrafprozessordnung (vom 20.03.2009, SR 312.1). 4. StPO oder Schweizerische Strafprozessordnung
(vom 5.10.2007, SR 312.0).
5. Piquerez Gérard, Macaluso Alain, Procédure pénale
suisse, Schulthess, Genf 2011, S. 409 (§ 1170) [unsere Übersetzung].
6. Genfer Kantonsgerichtshof, Beschwerdekammer in Strafsachen, Urteil vom 18.12.2012 (ACPR/569/2012), E. 3.2.2. Idem: Urteil vom 8.01.2014 (ACPR/13/2014).
7. Obergericht des Kantons Aargau, Jugendbeschwerdekammer, 18. Juni 2013, SBK.2013.197, in CAN 2013 Nr. 69 S. 176.
8. Urteil 1B_56/2014 vom 10.04.2014.
9. AuG: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und
Ausländer (vom 16.12.2005, SR 142.20).
















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